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Das mobile Ding des Monats AUGUST

Ein Dirndl in Down Under

 

Wenn man sein altes Leben zurücklassen muss, was nimmt man in ein neues Leben mit? Zu den Habselig-keiten, die österreichische Jüdinnen und Juden in die Emigration mitnahmen, konnten auch Lederhosen, Dirndln und Kleidung zählen, die sich an Tracht anlehnte. Alleine der Umstand, dass diese regional typische Klei-dung für Flucht und Neubeginn nicht zwingend notwen-dig war, zeigt auf, dass die Entscheidung ihrer Mitnahme in die Gefühlswelt spielte. Für manchen der Trägerinnen und Träger war es die Lieblingskleidung, für andere viel mehr: ein Teil von Identität und Herkunft.

In seiner ursprünglichen und allgemeinen Bedeutung ist die Tracht das Gewand des „einfachen Landvolkes“. Durch das Tragen von Tracht vermittelten Erzherzog Jo-hann, Kaiser Franz Joseph I. und andere Mitglieder des Kaiserhauses Volksnähe und eine zeittypische romanti-sche Sehnsucht nach einer verlorenen „heilen Welt“. Um diese kulturelle Aneignung und Mitgestaltung war aller-dings ein Kulturkampf entbrannt. Unter anderen forcierte der 1908 gegründeten „1. Österr. Reichsverband für Alpine, Volks- und Gebirgs-Trachten Erhaltungsvereine“ in seinen Schriften ab 1912 den „Kampf“ um die „Väter-tracht“, die sich gegen die Sommerfrische-Mode als sol-che und in den Folgejahren immer stärker gegen Jüdin-nen und Juden richtete. Durch den jüdischen Liedersam-mler und Trachtenforscher Konrad Mautner erforscht, durch Alpin- und Trachtenvereine und Heimatwerke mo-dernisiert und vereinnahmt, vom österreichischen Stän-destaat zur Uniform des Beamten, Bürgers und Lehrers umfunktioniert, interpretierten die Nationalsozialisten Lederhose und Dirndl als „urdeutsch“ und setzten dem jüdischen Bedürfnis nach Akzeptanz durch das am 20. Juni 1938 erlassene Trachtenverbot für Jüdinnen und Juden ein Ende.

 

Dennoch belegen erhaltene Lederhosen und Dirndln in weltweit verstreuten jüdischen Holocaust-Museen, Zeit-zeugInnen-Interviews, Biografien oder Fotos, dass jüdi-sche Emigranten und Emigrantinnen gerade diese Klei-dungstücke auf die Flucht mitnahmen, obwohl diese eigentlich nicht unbedingt zu den überlebensnotwen-digen Dingen zählten.

 

Dazu zählt auch das Dirndl von Grete Stern aus Wien. Sie trug das blau-weiß gemusterte Kleidungsstück samt Schürze während der 1930er in Österreich. Eine Fotogra-fie zeigt sie – untergehakt bei ihrem Mann Fritz Stern, der ebenfalls Trachtenjanker, Lederhose, weiße Stutzen und einen der Trachtenmode entlehnten Hut trägt – auf einer Wiese mit Wald im Hintergrund. Zwischen ihren Beinen lugt frech eine dritte unbekannte Person hervor. Die Rückseite der Fotografie ist mit „Juni 1937 Kramer Hütte“ beschriftet.

Nach dem Anschluss Österreichs im März flohen Fritz und Grete Stern gemeinsam mit ihrer Tochter Eva über die Schweiz nach Australien. Gretes Dirndl, die passen-den Schürzen, ein Halstuch, ein Gürtel sowie die be-schriebene Fotografie nahmen sie mit. Im Februar 2019 spendete Eva Engel geb. Stern diese Erinnerungsstücke dem Jüdischen Museum in Sydney.  In der Beschreibung der verschiedenen Objekte findet sich jedes Mal der Satz: „Prior to the Anschluss in 1938, Grete and Fritz Stern and their daughter Eva, considered themselves assimilated and were proud to wear the traditional garb of their homeland.“

 

Dieser den einzelnen Objekten beigefügte Satz zeigt nochmals abschließend, dass sich die Themen Kleidung und Identität nicht voneinander lösen lassen. Die getra-gene Kleidung zeigt ein Stück von sich selbst, ihre identi-tätsstiftende Wirkung verändert sich nicht, auch wenn ein Ozean sie von ihrer ursprünglichen Herkunft trennt.

 

Mobilität liegt in diesem Fall nicht nur in der Mitnahme, sondern auch in dem durchlaufenen Bedeutungswandel. Dieser Wandel ist häufig mit der eigenen Fluchterfah-rung, dem persönlichen Schicksal, untrennbar verbunden. Das Dirndl kann in der erzwungenen Fremde zu einem Erinnerungskern der unbeschwerten Tage werden, das jedoch in seiner Materialität bedeutungslos geworden ist. Es ist sein ideeller Wert, dem nun die Bedeutung für die betroffene Person und deren Nachkommen inne-wohnt. Durch die Übergabe der Kleidungsstücke und der Fotografie an das Jüdische Museum Sydney verfestigt Eva Engel die Erinnerung an das Schicksal ihrer Familie und schützt sie vor dem Vergessen. Es ist Geschichte einer Familie, erzählt durch ein blau-weißes Dirndlkleid.

Merle Bieber, Institut für jüdische Geschichte Österreichs

 

 

Dirndl von Grete Stern © Sydney Jewish Museum M2019/012:001
Fritz und Grete Stern, Juni 1937 © Sydney Jewish Museum M2019/012:006

Kontakt


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> office@injoest.ac.at

 

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