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Das mobile Ding des Monats APRIL

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Rom – PÅ™íbram – St. Pölten. Stationen einer Wallfahrtsmedaille des 17. Jahrhunderts

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Fernreisen zu unternehmen wird gerne als Phänomen oder Luxus moderner und wohlhabender Gesellschaften angesehen. Doch tatsächlich ist das Bestreben des Men-schen, zu neuen Ufern aufzubrechen wohl so alt, wie die Menschheit selbst. In vergangenen Epochen bot eine Pil-gerreise oder Wallfahrt einen willkommenen Anlass, die-ses Bedürfnis zu stillen. Damit gepaart war die Möglich-keit an einem heiligen Ort seine Anliegen vorbringen zu können und einen Teil des dort wirksamen „Heils“ in Form von geweihten Devotionalien mit nach Hause zu nehmen. Pilgerzeichen und Medaillen gehörten zu den wichtigsten Medien, welche Wallfahrer*innen als sicht-bares Zeichen einer absolvierten Wallfahrt, als Erinne-rungsstück oder als Geschenk für die Daheimgebliebenen erwerben konnten. Mit dem Gnadenbild oder einer Reli-quie berührt und geweiht, konnte mit ihrem Erwerb ein Ablass verbunden sein. Sie galten als heil- und schutz-mächtig gegen Krankheiten, Unheil und böse Mächte. Sie wurden daher überall dort platziert, wo ihre Wirkmäch-tigkeit gewünscht war: in Haus und Hof an schutzwür-digen Plätzen, in Gräbern und als „Wearables“ direkt am Körper.

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Wallfahrtsmedaillen können anhand des dargestellten Kultbildes in den meisten Fällen einer bestimmten Wall-fahrtsstätte zugeordnet werden. Ist der letzte Nutzungs-ort bekannt, wie im Falle von Grabfunden, so kann der Weg, den die Medaille nach ihrem Erwerb einschlug, nachvollzogen werden. Das Objekt des Monats April ist eine Medaille vom Heiligen Berg/Svatá Hora bei PÅ™íbram rund 60 km südwestlich von Prag, einer der wichtigsten böhmischen Wallfahrtsorte im 17./18. Jh. Gefunden wur-de das Stück in einem Frauengrab des 1779 aufgelasse-nen St. Pöltner Stadtfriedhofs. Auf der Vorderseite ist die verehrte Marienstatue mit dem Jesuskind am linken Arm dargestellt. Die Umschrift beschreibt in verkürzter Form das Bild: „B(eata) * V(irgo) * MARIA * DE * MONTE * SANC-TO * IN * REGNO * BOHEMIÆ * – „Selige Jungfrau Maria vom Heiligen Berg im (König-)Reich Böhmen“. Die Rück-seite trägt die Symbole der fünf Wunden Christi: das Herz, die Hände und Füße Jesu, die bei der Kreuzigung durch das Schwert bzw. Nägel durchbohrt wurden. Um-geben werden sie von einer Zeile des aus dem im 14. Jahrhundert entstandenen Anima-Christi-Gebetes: + IN-TRA * TVA * VVLNERA * ABSCONDE * ME – „In Deine Wunden schließe mich ein“. Das Gebet galt als Lieblings-gebet des Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesui-tenordens, der unter anderem auch den Heiligen Berg als Wallfahrtsstätte betreute.

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Lassen sich für die Medaille also der Ort ihres Erwerbes und jener, an dem sie für mehrere Jahrhunderte in den Boden gelangte, bestimmen, so wäre noch zu fragen, wo sie hergestellt wurde? Dies kann leider für die meisten Medaillen nicht beantworten werden, da die wenigsten Stücke Werkstattmarken oder Herstellerinitialen aufwei-sen. Falls doch, so gelang es für viele Initialen bisher noch nicht, die entsprechenden Hersteller namentlich eindeu-tig zu identifizieren. Anders allerdings bei dem vorgestell-ten Stück: unterhalb der Madonna befinden sich die Initi-alen „AH“ (in Ligatur), die von der Forschung mit Alberto Hamerani entschlüsselt werden konnten. Er entstammte einer über mehrere Generationen für die päpstliche Münzstätte in Rom tätigen Medailleursfamilie und wirkte ab etwa 1640 bis 1677.

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Die Medaille wurde also in Rom hergestellt, wo sie ver-mutlich vom Jesuitenorden in Auftrag gegeben bzw. be-stellt wurde. Vor dort trat sie ihre Reise zunächst nach Böhmen an, wo sie am Heiligen Berg offenkundig von einer Gläubigen oder einem Gläubigen aus St. Pölten als Wallfahrtsandenken erworben und mit nach Hause ge-bracht wurde. Hier in der Stadt oder im nahen Umfeld war sie für unbestimmte Zeit als Andachtsgegenstand oder Erinnerungsstück in Verwendung, ehe sie in ihrer letzten Funktion als Beigabe in ein Frauengrab gelangte. In Summe legte die Medaille eine Wegstrecke von min-destens 1070 km (Luftlinie) durch Europa zurück – ohne Flugzeug, Eisenbahn oder Auto. Auf der ersten, rund 870 km weiten Etappe wahrscheinlich mit einigen Pferdestär-ken in einem Wagen transportiert, eventuell abschnitts-weise auch mit dem Schiff, danach aber wohl im Gepäck einer/s zu Fuß pilgernden Gläubigen auf dem 200 km lan-gen Weg von Böhmen ins Zentrum Niederösterreichs, wofür eine Dauer von 6–7 Tagen geschätzt werden kann. Fernreisen waren also auch in vormoderner Zeit möglich, wenn auch deutlich entschleunigter und mit mehr kör-perlichem Einsatz.

 

Karin Kühtreiber, Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg, Standort Krems (IMAREAL)

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Publikation:
Karin Kühtreiber, Thomas Kühtreiber, The Project “Religious ‘Wearables’ as material Witnesses of Early Modern Mobility (17th/18th Century)”: Remarks on: S. Pennestrì, F.Y. Teklemariam Bache (Eds.), Il Campionario di Medaglie Devozionali della Bottega Hamerani. Simboli e Luoghi del Sacro a Roma e in Europa tra Seicento e Ottocento. In: Notiziario del Portale Numismatico dello Stato 15, 2021, 408–413. Online

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Informationen zu den Ausgrabungen am Domplatz St. Pölten: Stadtmuseum St. Pölten

Foto der Wallfahrtsmedaille: Peter Böttcher, Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg, Standort Krems

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Wallfahrtsmedaille Grabungen St. Pölten-Domplatz, Fnr. 15_KF_246, Fundverbleib © Stadtmuseum St. Pölten; Foto: Peter Böttcher, Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg, Standort Krems

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