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Das mobile Ding des Monats MAI

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Liserl bei Großmutter Lina (Juni 1936)

 

Die hochformatige Schwarz-Weiß-Fotografie rückt zwei Personen in den Mittelpunkt der Aufnahme, die auf einer schlichten Holzbank vor einer Hauswand und einer Hecke sitzen: Es handelt sich um eine alte Frau, deren weiße Haare zu einem Knoten gesteckt sind. Einem bewusst gesetzten Kontrast gleich, trägt sie in dunkle Farbtöne gehaltene Kleidung, die schlicht und dennoch elegant wirkt: eine Bluse und einen langen Rock. Ihre Hände sind auf ihrem Schoß verschränkt, eine Pose, die zeigt, dass sie dem Kind zu ihrer Linken ihre volle Aufmerksamkeit schenkt. Der Schnappschuss stammt aus einem Foto-album, entstanden ist er im Juni 1936. Laut Beschriftung handelt es sich um „Liserl bei Großmutter Lina”. Das klei-ne Mädchen sitzt eng neben seiner Großmutter, es ist noch so jung, dass seine Beine nicht auf den Boden rei-chen. In seiner Haltung wirkt das Mädchen gleicher-maßen entspannt wie leicht distanziert – so wie es bei Kindern gelegentlich zu bemerken ist, wenn sie sich mit einem Menschen unterhalten, der ihnen zwar vertraut ist, den sie ihn aber nicht so oft sehen.

»Liserl« so der Kosename der zweijährigen Liselotte Adler, blickt zu ihrer Großmutter hoch – aufmerksam, vielleicht etwas neugierig. Das Kleinkind trägt auf dem hellen Lockenkopf einen der Trachtenmode entlehnten Hut mit Feder. Dies ist stimmig, weil auch seine restliche Kleidung mit dem weißen Hemdchen und der kurzen Hose mit Hosenträgern die Assoziation zu einer Tracht nahelegt. Die Fotografie spiegelt durch die körperliche Nähe und eingefangene Stimmung Vertrautheit wieder, es entsteht der Eindruck, dass sich die beiden miteinan-der unterhalten.

 

Die Fotografie ist ein letztes Zeugnis unbeschwerter Kindheitstage, aufgenommen in der Castellezgasse 15 in der Wiener Leopoldstadt. Bis 1940 war es die Wohn-adresse von Emil Adler und seiner Frau Karoline, geb. Hacker (Großmutter Lina). Während Emil Adler noch 1941 in Wien verstarb, wurde seine Frau im September 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert.

„Liserl“ bzw. Liselotte Adler konnte dank der Forschungs-arbeit ihrer Mutter Regina Kapeller-Adler mit ihren Eltern bereits im Jänner 1939 nach Großbritannien emigrieren. In ihrem Gepäck befand sich neben dem Fotoapparat des Vaters Ernst Adler, dem Fotografen der Familie, auch die Fotografie mit Großmutter Karoline Adler. Diese über-lebte Theresienstadt und folgte der Familie ihres Sohnes nach Großbritannien, wo sie 1947 verstarb.

 

Heute befindet sich der „Bilderschatz“, zu dem auch diese Fotografie zählt, im Besitz von Liselotte Kastner (geb. Adler). Die Fotografie und die Lebensgeschichte von Liselotte Kastner sind Teil der Sammlung von „Asso-ciation of Jewish Refugees (AJR) Refugee Voices“. Es ist eine Sammlung von Interviews, Fotos und Dokumenten zu Lebensgeschichten jüdischer Flüchtlinge, die sich in Großbritannien ein neues Leben aufgebaut haben. Lise-lotte Kastner teilt hier, neben Bildern von ihrer Jugend in Großbritannien sowie ihrem Hochzeitsfoto in Edinburgh von 1963, auch das Bild mit Großmutter Lina aus Wien. 

Von nun an dient die Fotografie nicht mehr alleine für die eigene Erinnerung, sondern steht hier in einer ihrer ur-sächlichsten Funktionen: als Mittel gegen das Vergessen. Um diesen Prozess des Vergessens zu verhindern, fun-giert die Fotografie als Speicher und mit einer externalen Fixierung, in deren Mittelpunkt nicht mehr die gelebte Erinnerung, sondern als deren Ersatz Wissen steht.

 

Die Fotografie „Liserl bei Großmutter Lina“ macht Mobilität nicht allein durch ihren Weg aus der Leopold-stadt bis nach Edinburgh und London deutlich. Sie zeigt vielmehr, dass Mobilität hier auch im Bedeutungswandel des Objekts zu sehen ist: Eine private Erinnerung aus Kindertagen findet durch die Einbettung in wissenschaft-liche Sammlungen bis hin zur Ausstellung „Die Familie Hacker – Jüdisches Leben in Bad Erlach“, Eingang in das kulturelle Gedächtnis.

 

Merle Bieber, Institut für jüdische Geschichte Österreichs

 

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Liselotte Kastner und Karoline Adler, 1936 © Liselotte Kastner

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Allgemeine Fragen zum Projekt:
> office@injoest.ac.at

 

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